Inmitten der politischen Debatten über Migration, Schulden und Bürgergeld arbeitet die Bundesregierung an einer tiefgreifenden Reform des Gesundheitssystems. Zentrales Element ist die geplante Einführung eines verpflichtenden Hausarztmodells für gesetzlich Versicherte. Damit soll der direkte Zugang zu Fachärzten künftig nur noch über eine hausärztliche Vermittlung möglich sein.
Koalitionsvertrag sieht „verbindliches Primärarztsystem“ vor
SPD und Union haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf ein sogenanntes „verbindliches Primärarztsystem“ verständigt. Das bedeutet konkret: Kassenpatienten sollen sich künftig nicht mehr selbstständig an Fachärzte wie etwa Orthopäden wenden können. Stattdessen muss der Weg über den Hausarzt oder Kinderarzt führen. Dieser soll dann entscheiden, ob und wann eine Überweisung an den Facharzt erfolgt – alternativ kann auch eine Vermittlung über den Patientenservice unter der Rufnummer 116 117 erfolgen.
Ausnahmen und unterschiedliche Regelungen für Privatversicherte
Ausgenommen von der Regelung sind Behandlungen beim Gynäkologen, Zahnarzt und Augenarzt. Auch für chronisch kranke Patienten sollen Ausnahmen gelten. Privatversicherte, derzeit etwa 8,7 Millionen Menschen in Deutschland, sind nicht betroffen – sie dürfen weiterhin direkt Fachärzte ihrer Wahl konsultieren. Die Reform wirft daher die Frage auf, ob sich die freie Arztwahl künftig nur noch Wohlhabende leisten können.
Unklare Zuständigkeiten bei Facharztwahl
Die Regierung betont, dass die freie Arztwahl auch unter dem neuen System erhalten bleiben solle – allerdings mit Einschränkungen. Noch offen ist, ob Patientinnen und Patienten den Facharzt selbst auswählen können oder ob ihnen ein beliebiger Facharzttermin zugewiesen wird. Es bleibt unklar, ob der Hausarzt oder die Kassenärztliche Vereinigung den konkreten Arzt benennt, bei dem ein Termin stattfinden soll.
Hausarztmangel stellt Umsetzung infrage
Ein zentrales Problem bei der Umsetzung der Reform ist der bereits bestehende Mangel an Hausärzten. Bundesweit fehlen rund 5.000 Mediziner in der Grundversorgung. Bereits heute ist es vielerorts schwierig, überhaupt einen Termin beim Hausarzt zu bekommen. Eine zusätzliche Belastung durch die Vermittlungspflicht könnte das System weiter überlasten.
Überlastete Fachärzte und Kliniken als zusätzliche Herausforderung
Auch bei Fachärzten und in Krankenhäusern sind Kapazitäten oft ausgeschöpft. Wenn mehr Patienten über Hausärzte oder den Patientenservice vermittelt werden, könnte dies die ohnehin angespannte Versorgungssituation weiter verschärfen.
Skepsis in der Bevölkerung überwiegt
Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA lehnt eine Mehrheit der Bürger das geplante Primärarztsystem ab. 44 Prozent der Befragten sprechen sich dagegen aus, nur 35 Prozent unterstützen das Vorhaben. Die Unsicherheit über konkrete Abläufe und mögliche Wartezeiten trägt zur verbreiteten Skepsis bei.
Gesundheitsministerin verteidigt Reformpläne
Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) verteidigte die Pläne mit dem Hinweis auf die angespannte Lage im Gesundheitswesen. Ziel sei es, eine effizientere und patientenorientierte Versorgung sicherzustellen. Der Hausarzt solle eine zentrale Rolle bei der Ersteinschätzung und Koordination übernehmen – auch per Video oder telefonisch. So sollen unnötige Doppeluntersuchungen vermieden und Fachärzte entlastet werden.
Kritik aus den Reihen der Opposition
Kritik kommt unter anderem von den Grünen. Deren gesundheitspolitischer Sprecher Janosch Dahmen bezeichnete die Pläne als „unseriöses Heilversprechen“. Er zweifelt daran, dass die Reform in der Praxis zu einer spürbaren Verbesserung führen kann.
Hintergrund: Hohe Kosten, mäßige Ergebnisse
Die Reformpläne sind Teil einer Antwort auf die angespannte finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenkassen. Trotz steigender Beiträge – zuletzt von 16,3 auf 17,1 Prozent – klagen viele Versicherte über lange Wartezeiten und eine nur mittelmäßige Behandlungsqualität. Im europäischen Vergleich gilt das deutsche Gesundheitssystem zwar als eines der teuersten, die Lebenserwartung liegt aber lediglich im Mittelfeld. Die Einführung eines Primärarztsystems soll hier eine Wende einleiten.