Sigmar Gabriel, der Aufsichtsratschef der Stahltochter von Thyssenkrupp, kündigte seinen Rücktritt an. Grund dafür seien unüberbrückbare Differenzen mit dem Konzernchef Miguel Lopez und dem Konzern-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm. Die Entscheidung folgt einer Zeit erheblicher Spannungen und Konflikte innerhalb der Führungsebene des Unternehmens. Zusammen mit Gabriel treten auch weitere Mitglieder des Aufsichtsrats und des Vorstands der Stahlsparte zurück, was die Führungskrise bei Thyssenkrupp weiter verschärft.
Vertrauensbruch und Differenzen
Sigmar Gabriel betonte, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Miguel Lopez und Siegfried Russwurm nicht mehr möglich sei. Dies sei das Ergebnis eines "schweren Vertrauensbruchs" und einer "beispiellosen Kampagne", die Lopez in den letzten Wochen gegen den Vorstand der Stahltochter, insbesondere gegen den Stahlchef Bernhard Osburg, betrieben habe. Lopez habe laut Gabriel den Vorstand zu einem Rücktritt gedrängt, obwohl dieser die Interessen des Stahlunternehmens engagiert vertreten habe. Neben Gabriel kündigten auch drei weitere Aufsichtsratsmitglieder ihren Rückzug an. Die Vorstandsmitglieder Bernhard Osburg, Markus Grolms und Heike Denecke-Arnold traten ebenfalls zurück.
Streit um die Neuausrichtung von Thyssenkrupp Steel Europe
Die Krise bei Thyssenkrupp hat ihren Ursprung in der geplanten Neuaufstellung der Stahlsparte Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE). TKSE ist der größte Stahlhersteller Deutschlands und zählt über 26.000 Mitarbeiter. Die Stahlsparte steht vor einer grundlegenden Restrukturierung, die im sogenannten Businessplan festgelegt wurde. Diese Pläne sehen eine Verselbstständigung des Unternehmens, eine deutliche Reduzierung der Produktionskapazitäten und einen Stellenabbau vor, um die Sparte profitabler zu machen. Über diese Pläne entbrannte ein Streit, insbesondere darüber, wie viel Kapital die Muttergesellschaft Thyssenkrupp AG ihrer Stahlsparte zur Verfügung stellen sollte, damit diese als eigenständiges Unternehmen überlebensfähig wäre.
Miguel Lopez, der Konzernchef von Thyssenkrupp, war nicht bereit, der Stahlsparte erhebliche finanzielle Mittel zukommen zu lassen. Er argumentierte, dass das Geschäft mit Stahl sehr krisenanfällig sei und sich das Unternehmen auf profitablere und wachsende Bereiche konzentrieren sollte. Dies führte zu erheblichen Spannungen mit der einflussreichen Gewerkschaft IG Metall, die die Stahlwerke an Rhein und Ruhr als die "DNA von Thyssenkrupp" betrachtet.
Einfluss des Investors Daniel Křetínský
Ein weiterer Konfliktpunkt war der Einstieg des umstrittenen tschechischen Milliardärs Daniel Křetínský in die Stahlsparte. Křetínský hatte mit seinem Unternehmen EPCG zuletzt einen Anteil von 20 Prozent an TKSE erworben und beabsichtigt, diesen möglicherweise auf bis zu 50 Prozent zu erhöhen. Sein Einfluss und seine Pläne stießen bei den Beteiligten auf Skepsis und trugen zu den Spannungen innerhalb des Unternehmens bei.
Gabriels Rücktritt und Vorwürfe gegen die Unternehmensführung
Gabriel warf Miguel Lopez vor, durch sein Vorgehen bewusst auf den Rücktritt des TKSE-Vorstands hingearbeitet zu haben, obwohl dieser die Interessen des Stahlunternehmens engagiert vertreten habe und sich gegen unvertretbare Einflüsse zur Wehr gesetzt habe. Auch dem Aufsichtsratsvorsitzenden des Thyssenkrupp-Konzerns, Siegfried Russwurm, machte Gabriel Vorwürfe. Er hatte nicht mehr den Eindruck, dass der Vorstand und der Aufsichtsrat der Thyssenkrupp AG den ursprünglichen Plan einer Abspaltung der Stahlsparte bei gleichzeitigem Erhalt weiterverfolgen würden.
Gabriels Rückzug folgte auf gescheiterte Vermittlungsversuche der Bundesregierung und des Landes Nordrhein-Westfalen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, hatten Gabriel und den übrigen Aufsichtsräten gebeten, die für den heutigen Tag geplante Sitzung um vier Wochen zu verschieben, um "weitere Gespräche zu ermöglichen". Diese Bitte blieb jedoch erfolglos.
Politische Dimension der Krise
Die Auseinandersetzung um die Zukunft der Stahlsparte hat auch eine politische Dimension. Die Bundesregierung und das Land Nordrhein-Westfalen planen, den klimaschonenden Umbau der Stahlproduktion in Duisburg mit etwa zwei Milliarden Euro zu fördern, um zumindest einen Teil der Produktionskapazitäten auf "grünen Stahl" umzustellen. Vor diesem Hintergrund versuchten die politischen Akteure, die Eskalation der internen Konflikte bei Thyssenkrupp zu verhindern.
Der grüne Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak bezeichnete die heutige Sitzung als einen "traurigen Höhepunkt einer Aneinanderreihung menschlicher Unanständigkeiten und sachlichen wie strategischen Irrsinns". Er kritisierte den Konfrontationskurs innerhalb des Unternehmens scharf und warnte vor den schwerwiegenden Folgen für die Beschäftigten, ihre Familien und den Thyssenkrupp-Konzern insgesamt. Banaszak sprach von einem "Gipfel der Verantwortungslosigkeit".
Auswirkungen und Zukunftsaussichten für Thyssenkrupp
Der Rücktritt von Sigmar Gabriel und anderen Führungskräften stellt die zukünftige Ausrichtung von Thyssenkrupp und insbesondere seiner Stahlsparte in Frage. Die tiefgreifenden Differenzen innerhalb der Unternehmensleitung über den Umgang mit der Stahlsparte und die strategische Ausrichtung des Konzerns könnten weitreichende Konsequenzen für die Zukunft des Unternehmens haben.
Miguel Lopez steht nun vor der Herausforderung, die Restrukturierungspläne für die Stahlsparte fortzusetzen und gleichzeitig das Vertrauen der Arbeitnehmer, der Gewerkschaften und der Politik wiederherzustellen. Die Frage, ob Thyssenkrupp seine Stahltochter abspalten und in welchem Umfang sie eigenständig bleiben kann, bleibt offen und wird weiterhin intensiv diskutiert.
Thyssenkrupp sieht sich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, darunter die Transformation zu einer nachhaltigeren und profitableren Unternehmensstruktur, die Integration von Investoren wie Daniel Křetínský und die Sicherstellung einer wettbewerbsfähigen Zukunft für die Stahlsparte. Dabei wird es entscheidend sein, wie die neuen Führungskräfte, die nach den Rücktritten von Gabriel und anderen Aufsichtsrats- und Vorstandsmitgliedern ernannt werden, die komplexen internen und externen Interessen in Einklang bringen können.