Das Bundesverfassungsgericht hat am 30. Juli 2024 entschieden, dass die 5-Prozent-Sperrklausel im Bundeswahlgesetz verfassungswidrig ist. Diese Entscheidung hat weitreichende Auswirkungen auf das deutsche Wahlrecht und könnte zu einer grundlegenden Reform führen.
Ist die 5-Prozent-Sperrklausel verfassungswidrig?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am 30. Juli 2024 verkündet wurde, erklärt die 5-Prozent-Sperrklausel für verfassungswidrig. Die Sperrklausel besagt, dass nur Parteien, die mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen erhalten, im Bundestag vertreten sein dürfen. Der Hauptgrund für diese Entscheidung ist, dass diese Regelung unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr zwingend erforderlich ist, um die Arbeitsfähigkeit des Bundestages zu gewährleisten. Zudem verstoße die Klausel gegen die Wahlgrundsätze des Grundgesetzes (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und benachteilige kleinere Parteien, die sich am demokratischen Willensprozess beteiligen wollen (Art. 21 Abs. 1 GG).
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Entscheidung nicht neuartige Erkenntnisse bringt. Die 5-Prozent-Sperrklausel war nie im Grundgesetz verankert, sondern lediglich in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG geregelt und galt nicht immer auf Bundesebene. Im Jahr 1949 existierte keine bundesweite Hürde, sondern lediglich auf der Länderebene. 1990 wurden getrennte Hürden für Ost- und Westdeutschland eingeführt. Für Parteien nationaler Minderheiten, wie den Südschleswigschen Wählerverband (SSW), gelten besondere Regelungen, die ihnen ebenfalls einen Sitz im Bundestag sichern.
Bedeutet das Urteil, dass die 5-Prozent-Sperrklausel ab sofort abgeschafft ist?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bedeutet nicht, dass die 5-Prozent-Sperrklausel sofort abgeschafft wird. Die Regelung bleibt vorläufig in Kraft. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Kritik an der 5-Prozent-Hürde nicht neu ist; sie wurde immer im Kontext der jeweiligen politischen Rahmenbedingungen und möglicher Ausgleichsmechanismen betrachtet.
Das Gericht hat lange klargestellt, dass eine 5-Prozent-Hürde nur unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt ist. Eine wesentliche Bedingung war die Existenz der Grundmandatsklausel. Diese besagt, dass Parteien, die weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhalten, aber in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen gewinnen, dennoch in den Bundestag einziehen können.
Die Ampelkoalition plante, die Grundmandatsklausel im Rahmen ihrer Wahlrechtsreform abzuschaffen, was die Bewertung der Sperrklausel durch das Gericht beeinflusst haben könnte. Mit dem Urteil bleibt die Grundmandatsklausel vorerst bestehen, bis die aktuelle oder eine zukünftige Regierung eine neue Wahlrechtsreform vorlegt.
Wäre eine Absenkung der 5-Prozent-Sperrklausel ein denkbarer Ausweg?
Eine Absenkung der 5-Prozent-Sperrklausel könnte eine mögliche Lösung sein, um etwaige verfassungsrechtliche Bedenken auszuräumen. Eine niedrigere Sperrklausel, beispielsweise auf 3 oder 4 Prozent, könnte mehrere Vorteile bieten, ohne die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gefährden:
Erhöhte Repräsentation
Eine Absenkung der Hürde würde zu einer größeren Vielfalt im Bundestag führen, da die Chancen für kleinere Parteien, Sitze zu gewinnen, steigen würden. Diese größere Vielfalt könnte die unterschiedlichen Weltansichten und Bedürfnisse der zunehmend zersplitterten deutschen Gesellschaft besser widerspiegeln. Dies ist besonders wichtig, da die großen Volksparteien an Einfluss verlieren und die politische Landschaft diverser wird.
Mehr politischer Wettbewerb
Die 5-Prozent-Sperrklausel begünstigt etablierte Parteien und schränkt den Wettbewerb ein. Eine niedrigere Sperrklausel würde diese Parteien dazu zwingen, sich intensiver mit neuen politischen Kräften auseinanderzusetzen. Dies könnte zu einer Renaissance des politischen Wettbewerbs führen, bei dem innovative Ideen und Lösungen gefordert wären. Die Konkurrenz würde nicht nur die politische Macht, sondern auch die Parteienfinanzierung und mediale Präsenz beeinflussen, was zu einer dynamischeren politischen Landschaft führen könnte.
Weniger Stimmenverlust
Eine niedrigere Hürde würde dazu führen, dass weniger Wählerstimmen „verloren“ gehen, d. h., sie würden nicht auf Parteien verteilt, die nicht im Parlament vertreten sind. Im Jahr 2013 gingen beispielsweise 15,7 Prozent der Stimmen auf „Sonstige“ Parteien, die nicht in den Bundestag einzogen.
Stabilität des Parlaments
Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eine Absenkung der Sperrklausel auf 3 oder 4 Prozent die Stabilität des Parlaments gefährden würde. Historisch gesehen war die Regierung Adenauer I (1949-1953) ohne eine bundesweite 5-Prozent-Hürde stabil, während die aktuelle Ampel-Regierung trotz ihrer Unterschiedlichkeit immer wieder in der Kritik steht.
Vergleich mit anderen Demokratien
In vielen Demokratien existieren Sperrklauseln unter 5 Prozent, die ebenfalls stabile politische Verhältnisse gewährleisten. Die 5-Prozent-Hürde in Deutschland wurde 1953 eingeführt, als vergleichbare Mechanismen in anderen Ländern kaum vorhanden waren. Die Höhe der Sperrklausel in Deutschland war daher eher willkürlich und gegen den Willen kleinerer Parteien von größeren Parteien beschlossen worden.
Leichtere Regierungsbildung
Eine größere Anzahl an im Bundestag vertretenen Parteien könnte die Regierungsbildung erleichtern. Seit 2013 werden Regierungen häufig aus der Not heraus gebildet, sei es durch große Koalitionen oder das aktuelle Ampel-Bündnis, das inhaltliche Probleme aufweist. Eine Absenkung der Sperrklausel könnte zu klarer ausgerichteten politischen Bündnissen führen und möglicherweise die langjährige Starre auflösen.
Die politischen Ränder werden geschwächt
Die 5-Prozent-Hürde zwingt viele Wähler zu taktischem Wählen, wodurch Stimmen verloren gehen oder alternative Koalitionen verhindert werden. Eine Absenkung der Sperrklausel würde das Angebot erweitern und alternative politische Optionen ermöglichen, ohne in den Protest abgleiten zu müssen. Dies könnte helfen, die politischen Ränder zu schwächen und die politische Landschaft zu stabilisieren.
Erhöhte Akzeptanz des demokratischen Systems
Wenn die eigene Stimme mehr Gewicht hat und die Auswahl größer ist, könnte dies auch die Akzeptanz des politischen Systems und das persönliche Gefühl der Teilhabe stärken. Wähler könnten sich stärker mit dem politischen System identifizieren und sich besser repräsentiert fühlen.