Die deutsche Innenpolitik steht derzeit vor einer brisanten Debatte: Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat die Diskussion über die Ausrufung einer „nationalen Notlage“ im Kontext der Asylkrise neu entfacht. Seine Forderung, ein funktionierendes Asylsystem innerhalb der Europäischen Union (EU) zu etablieren, hat eine Welle politischer Reaktionen ausgelöst. Sollte die EU nicht in der Lage sein, ein solches System zu gewährleisten, müsse Deutschland, so Merz, nach nationalem Recht handeln – selbst, wenn dies einen Bruch mit dem EU-Recht bedeute. Doch was steckt hinter dieser Forderung? Und welche Auswirkungen hätte ein solcher Schritt für Deutschland und die EU?
Die Forderung nach einem funktionierenden Asyl-System
Friedrich Merz macht keinen Hehl daraus, dass er die derzeitige Asylpolitik der EU als gescheitert ansieht. Die Dublin-Verordnung, die regelt, welches EU-Land für das Asylverfahren zuständig ist, wird von vielen Mitgliedstaaten nicht mehr konsequent umgesetzt. Vor allem Länder wie Italien und Griechenland, die als erste Anlaufstellen für viele Flüchtlinge fungieren, weigern sich häufig, Asylsuchende zurückzunehmen, die über andere EU-Länder nach Deutschland weitergereist sind.
Merz' Forderung ist eindeutig: Die EU muss sicherstellen, dass das Dublin-System funktioniert. Sollte dies nicht der Fall sein, müsse Deutschland laut Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) das Recht, oder wie Merz es formuliert, „die Pflicht“ haben, eine nationale Notlage auszurufen. Dies würde es Deutschland ermöglichen, Flüchtlinge, die nach EU-Recht in anderen Mitgliedstaaten ihr Asylverfahren durchlaufen müssten, an der Grenze abzuweisen.
Was bedeutet die Ausrufung einer „nationalen Notlage“?
Der Begriff „nationale Notlage“ ist im deutschen Verfassungsrecht nicht klar definiert. Staatsrechtler wie Prof. Paul Kirchhof weisen darauf hin, dass das Grundgesetz den Begriff „Notlage“ nur im Zusammenhang mit einer Haushaltsnotlage kennt, nicht aber als allgemeines Rechtskonstrukt für Krisensituationen. Dennoch könnte Deutschland, so Verfassungsexperten, auf Basis von Artikel 72 AEUV handeln, der es einem Mitgliedstaat erlaubt, Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten.
Eine „nationale Notlage“ würde praktisch bedeuten, dass Deutschland seine Grenzen für bestimmte Asylsuchende schließt und diese an den Außengrenzen zurückweist. Dies wäre eine drastische Abkehr von der bisherigen Asylpraxis und könnte weitreichende Folgen für das deutsche und europäische Asylsystem haben. Kurzfristig könnte dies die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland reduzieren und den Druck auf die Bundesregierung mindern. Langfristig könnte ein solcher Alleingang jedoch zu erheblichen Spannungen innerhalb der EU führen.
Auswirkungen auf die EU und das deutsche Asylsystem
Die Ausrufung einer „nationalen Notlage“ durch Deutschland wäre nicht nur innenpolitisch, sondern auch auf europäischer Ebene ein höchst kontroverser Schritt. Es ist zu erwarten, dass ein solcher Schritt auf scharfe Kritik anderer EU-Mitgliedstaaten stoßen würde. Diese könnten argumentieren, dass Deutschland damit das solidarische Prinzip der EU untergräbt, nach dem die Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen geteilt werden soll.
Ein Alleingang Deutschlands könnte zudem das ohnehin fragile Asylsystem der EU weiter destabilisieren. Bereits jetzt gibt es innerhalb der EU große Uneinigkeit über den Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden. Eine solche Maßnahme könnte die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten weiter vertiefen und zu einer Fragmentierung der EU-Politik führen. Verfassungsexperte Volker Boehme-Neßler warnt daher, dass ein deutscher Alleingang die Asylsituation in Europa langfristig verschlechtern könnte.
Politische Dimensionen und die Spaltung der Ampel-Koalition
Die Forderung von Friedrich Merz hat nicht nur Auswirkungen auf die europäische Ebene, sondern könnte auch die innenpolitische Lage in Deutschland erheblich beeinflussen. Die Ampel-Koalition, bestehend aus SPD, Grünen und FDP, steht in der Asylpolitik ohnehin unter Druck. Die Frage, wie Deutschland mit der steigenden Zahl von Asylsuchenden umgehen soll, sorgt bereits jetzt für Spannungen innerhalb der Koalition.
Ein Vorstoß wie der von Merz könnte diese Spannungen weiter verschärfen und zu einer Spaltung der Regierungskoalition führen. Die Grünen, die traditionell eine eher liberale Asylpolitik vertreten, dürften einem solchen Schritt skeptisch gegenüberstehen. Auch innerhalb der SPD gibt es Stimmen, die einen härteren Kurs in der Asylpolitik ablehnen. Die FDP hingegen könnte geneigt sein, einen restriktiveren Ansatz zu unterstützen, um den Druck auf das deutsche Asylsystem zu mindern.
Sollte die Ampel-Koalition in dieser Frage zerbrechen, könnten Neuwahlen oder zumindest ein Wechsel der politischen Mehrheiten die Folge sein. Dies würde die politische Landschaft in Deutschland erheblich verändern und könnte zu einem Machtwechsel zugunsten der CDU führen.
Verfassungsrechtliche Fragen und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts
Ein weiterer Aspekt, der in der Debatte um die Ausrufung einer „nationalen Notlage“ eine Rolle spielt, sind die verfassungsrechtlichen Implikationen. Wie bereits erwähnt, ist der Begriff der „Notlage“ im deutschen Verfassungsrecht nicht eindeutig definiert. Es stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung überhaupt das Recht hätte, eine solche Notlage auszurufen und nationale Maßnahmen zu ergreifen, die im Widerspruch zum EU-Recht stehen.
Sollte die Bundesregierung diesen Weg einschlagen, wäre es wahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet würde, um die Rechtmäßigkeit einer solchen Entscheidung zu prüfen. Das Gericht müsste dann klären, ob und unter welchen Umständen Deutschland das EU-Recht ignorieren könnte, um nationale Interessen zu wahren. Eine solche Entscheidung hätte weitreichende Folgen für das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht und könnte einen Präzedenzfall schaffen, der weit über die Asylpolitik hinausreicht.