Im Rahmen der Sommerpause im politischen Berlin, während sich die Parteien auf die bevorstehenden Wahlen vorbereiten – darunter die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie die Bundestagswahl im kommenden Jahr – hat die CDU erneut eine Forderung zur Neugestaltung des Bürgergeldes aufgebracht. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schlug vor, mehr als 100.000 Menschen das Bürgergeld vollständig zu streichen. Diese Forderung basiert auf der Annahme, dass eine große Anzahl von Empfängern nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen.
Linnemann argumentiert, dass viele Empfänger des Bürgergeldes, darunter auch Ukrainer, die in Deutschland leben, grundsätzlich nicht gewillt seien, eine Arbeitsaufnahme zu versuchen. „Die Ukrainer verteidigen auch unsere Freiheit, aber wenn es eine Leistung gibt, ist sie mit einer Gegenleistung verbunden. Dazu zählt, eine Arbeit aufzunehmen“, so Linnemann. Er sieht jedoch Ausnahmen für Alleinerziehende oder Menschen, die Angehörige pflegen. Auch Andrea Lindholz, stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, unterstützt diesen radikalen Kurswechsel.
Verfassungsrechtliche Fragen zur Streichung des Bürgergeldes
Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine komplette Streichung des Bürgergeldes verfassungskonform wäre. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019, das sich mit den Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger befasste, könnte hier wegweisend sein. Damals stellten die Richter klar, dass jeder Mensch Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Ein zentraler Satz des Urteils lautete: „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“
Verfassungsgerichtliche Anforderungen an Sanktionen
Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der Staat zwar das Recht hat, eine Mitwirkungspflicht für den Bezug von Grundsicherung zu verlangen, jedoch müssen die Sanktionen verhältnismäßig sein. Sanktionen stellen für Betroffene eine „außerordentliche Belastung“ dar, die durch den Staat verursacht wird. Die Bedingungen für verhältnismäßige Sanktionen sind:
- Verlässliche Prognosen: Es müssen zuverlässige Vorhersagen existieren, die belegen, dass die Sanktionen das gewünschte Verhalten hervorrufen.
- Möglichkeit zur Verhaltensänderung: Betroffene müssen die Möglichkeit haben, durch eigenes Verhalten Sanktionen abzuwenden.
- Möglichkeit zur Beendigung der Sanktionen: Betroffene müssen in der Lage sein, durch eigenes Verhalten das Ende der Sanktionen herbeizuführen.
- Wiederherstellung der Leistungen: Nach Beendigung der Sanktionen müssen die Leistungen in vollem Umfang wiederhergestellt werden.
Höhe der Leistungskürzungen: Ein Verfassungsgerichtsurteil aus 2019
Das Urteil von 2019 befasste sich auch mit der Frage, inwieweit Leistungskürzungen im Bürgergeld verhältnismäßig sind. Das Gericht entschied, dass eine Kürzung von 60 Prozent der Grundsicherung nicht verhältnismäßig sei. Eine Reduzierung um 30 Prozent wurde hingegen unter bestimmten Umständen als verhältnismäßig angesehen, da sie den Betroffenen wichtige Mittel für die Arbeitsaufnahme entzieht, wie etwa für Kleidung, Verkehr und Bildung. Das Gericht wies darauf hin, dass eine drastische Kürzung auch negative Auswirkungen auf Dritte haben könnte.
Die Verfassungsrichter zeigten Bedenken, dass solche Leistungsminderungen tatsächlich den gewünschten Effekt erzielen würden, da die Studienlage unzureichend sei. Trotzdem ließ das Gericht offen, dass in Fällen, in denen eine zumutbare Arbeit willentlich verweigert wird, trotz der Möglichkeit, Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, eine komplette Streichung des Hartz-IV-Bezugs theoretisch gerechtfertigt sein könnte. Es bleibt jedoch die Pflicht des Staates, sicherzustellen, dass Betroffene zumindest theoretisch eine Chance auf Arbeitsaufnahme haben.
Theoretische Möglichkeit der kompletten Streichung des Bürgergeldes
Die Forderung von Carsten Linnemann, das Bürgergeld vollständig zu streichen, ist theoretisch möglich, allerdings nur unter strengen Voraussetzungen. Der Staat darf Menschen nicht einfach in der Bedürftigkeit lassen, da dies mit der Menschenwürde nicht vereinbar wäre. Betroffenen muss immer die Möglichkeit gegeben werden, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Der Staat kann Personen, die nachweislich nicht bedürftig sind und auch ohne Bürgergeld auskommen würden, das Bürgergeld entziehen.
CDU-Abgeordnete Gitta Connemann betonte, dass Personen, die arbeiten könnten, aber ohne wichtigen Grund dies nicht tun, sanktioniert werden sollten. Leistungskürzungen, so Connemann, seien legitim und könnten auch vollständig durchgeführt werden. Das Bundesverfassungsgericht habe diese Möglichkeit offen gelassen.
Weitere Vorschläge und Kritiken innerhalb der CDU
Julia Klöckner, ebenfalls Abgeordnete der CDU, schlug vor, in begründeten Fällen alternative Maßnahmen wie Essensgutscheine statt Bargeld einzuführen oder Menschen aus teuren Innenstadtlagen in günstigere Regionen umzuziehen. Ob diese Vorschläge umsetzbar sind, ist jedoch umstritten und hängt von der Interpretation der rechtlichen Rahmenbedingungen ab.
Kritische Stimmen aus dem Sozialflügel der CDU
Trotz der Forderungen von Linnemann gibt es innerhalb der CDU auch kritische Stimmen. Christian Bäumler, Vize-Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), wies darauf hin, dass drastische Kürzungen nur eine sehr begrenzte Anzahl von Personen betreffen würden. Der CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann betonte, dass es im vergangenen Jahr nur 21.000 Menschen aufgrund von Arbeitsverweigerung zu Leistungskürzungen gekommen sei – eine vergleichsweise geringe Zahl im Vergleich zu den insgesamt rund 5,5 Millionen Bürgergeldempfängern im Jahr 2023.
SPD: Striktere Maßnahmen gegen Sozialmissbrauch gefordert
Die SPD-Ministerpräsidentin des Saarlandes, Anke Rehlinger, hat sich unterdessen für eine bessere „Treffsicherheit“ des Bürgergeldes ausgesprochen. Die Debatte um Migration und Sozialstaat sei zunehmend problematisch, insbesondere aufgrund des Anstiegs des Anteils von Bürgergeldempfängern mit Migrationshintergrund. Rehlinger forderte, dass Missbrauch konsequent bestraft und Personen mit anerkanntem Asylgrund schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden müssten. Sie betonte auch, dass der Staat effektiver gegen Schwarzarbeit vorgehen müsse, um Doppelbetrug an der Gesellschaft zu verhindern.